Dennis
Heinrich Füssli: Das Schweigen (1799/1801)
Innere Stimmen
Jahre 1889, Irrenanstalt Gonau – Deutschland
Geschrei von unruhigen Patienten hallen durch die langen Gänge des sonst stillen Irrenhauses. Die staubigen Öllampen an der Decke flackern unkontrolliert. Pierre sitzt in einem gedimmten Raum, vor ihm ein alter Holztisch, auf dem sein ledernes Notizbuch bereit liegt. Er ist hier, um sich mit einer Patientin dieser Anstalt zu unterhalten.
Seine Hand ruht auf dem Notizbuch, während die Patientin Nummer 617 den düsteren Raum betritt. Ihr ausdruckslose Blick schweift im Zimmer umher. Mit einer schnellen Handbewegung deutet Pierre auf einen Stuhl gegenüber von ihm, «Du kannst dich setzen, wenn du magst». Die Patientin setzt sich zögernd, ihre glasigen Augen vollkommen auf dessen Pierres fokussiert.
«Ich bin sicher, man hat dir schon gesagt, warum ich hier bin.»
«..nein», erwiderte die Patientin, mit einer leisen Stimme.
«Oh, dann erlaub mir, mich vorzustellen. Mein Name ist Pierre Janet. Ich komme aus Frankreich und war schon immer fasziniert von dem menschlichen Denken. Demzufolge bin ich gelehrter Philosoph, sowie Psychiater und Psychotherapeut. Mit dem heutigen Gespräch möchte ich ein bisschen mehr über dich und deine Gedanken erfahren.»
«Warum würden Sie mit jemandem wie ...mir reden wollen?»
«Ich möchte mehr über deine Störung wissen, dazu auch etwas über dein früheres Leben erfahren. Um zukünftige Fälle besser zu verstehen, und diese vor einer Anstalt wie dieser zu bewahren, ist das wichtig.»
«Ehm.. wenn Sie meinen.» sagt sie unsicher, «Was wollen Sie denn wissen?»
«Wie bist du aufgewachsen? Wie war das Familienleben bei dir zuhause? Mich würde es freuen, wenn du einfach etwas von deiner Kindheit erzählst.» sagt er lächelnd.
«Ich bin auf einem kleinen Bauernhof auf dem Land aufgewachsen», begann sie stockend, «Ich musste viel mithelfen, vor allem als mein Vater das wenige Geld, das wir hatten, für Alkohol ausgegeben hatte. Das Ganze war ..uns dann irgendwann zu viel.», sie verstummt.
Pierre hakt nach, «Was meinst du damit? Und was meinst du mit ‘uns’?»
«Bevor Vater angefangen hat zu trinken, war alles gut. Mit dem Alkohol wurde er aber immer aggressiver und handgreiflicher. Zu dieser Zeit hat mich Cora beschützt.»
«Und wer ist diese Cora?»
«..sie, so wie viele andere, sind da drin.» sagt sie und deutet mit einem zitternden Finger auf ihren Kopf. «Wir sind nicht eine einzige Person, wir sind mehrere, nur eben da oben drin.» Wieder tippt sie hastig an ihre Stirn. «Als wären verschiedene Personen zusammen in einem Kopf eingesperrt.»
«Kannst du die Gefühle oder deine Erfahrungen genauer beschreiben?» Das ist nicht das erste Mal, das Pierre mit Patienten, die unter der sogenannten Dissoziativen Identitätsstörung leiden, redet.
«Wir mögen es nicht besonders, wenn wir als nur eine Person angesehen werden. Wir sind ein Gemisch von Personen, die abwechselnd die Kontrolle über Gedanken und Körper übernehmen. Das macht mir manchmal Angst, denn man kann jederzeit die Kontrolle verlieren, in einer fremden Situation auftauchen oder vergessen, was man zuvor getan oder gefühlt hat. Ich weiss nicht recht, wie ich das erklären soll..»
«Ich denke ich verstehe.» Pierre hakt erneut nach «Aber was meinst du ...ihr mit dem ‘Kontrolle verlieren’?»
«Ich, also diese Person, die Ihnen gegenübersitzt, habe eigene Gedanken. Ich bin hier gerade anwesend. Wenn aber nun zum Beispiel Cora die Kontrolle übernimmt, dann kann es gut sein, dass sie sich an dieses Gespräch gar nicht erst erinnert. Es kommt mir so vor, dass diese Personen in meinem Kopf manchmal einfach nicht miteinander reden können.»
«Und wisst ihr, warum andere Personen zum Vorschein kommen können?» Währenddessen kritzelt Pierre hastig in seinem Notizbuch.
«Cora ist wie eine Art Beschützerin sowie Aufsichtsperson für die Kleinen. Bei Gefahr übernimmt sie die Kontrolle und versucht, die Situation besser zu machen. Andersrum ist es mit den Kleinen.. wenn wir bestimmte Süssigkeiten essen oder Kinderlieder hören, dann wollen die das erleben und dann schubsen die mich in den Gedanken wie weg.» Die Patientin zittert leicht und reibt sich an den Schläfen.
«Ich verstehe.» weiteres Gekritzel ist zu hören. «Fühlt ihr euch nicht gut?» fragt Pierre, nachdem er die Patientin begutachtete.
«Wir haben nur oft Kopfschmerzen, nicht so schlimm.»
Als Pierre merkt, dass es der Patientin offensichtlich nicht gut geht, schliesst er sein Notizbuch und steht langsam auf. «Ich denke, dass ich, zumindest für den Moment, genug gehört habe. Ich danke euch, dass ihr die Zeit hattet, mir zu helfen. Wärt ihr damit einverstanden, wenn ich euch in der Zukunft einen weiteren Besuch abstatten würde?» sagt er, bevor er sich in Richtung Tür bewegt.
«Würde uns freuen.»
Mit Türklinke in der Hand gibt er ein letztes «Gute Besserung» von sich.
«Danke.» antwortete sie, mit dem selben, ausdruckslosen Blick wie zu beginn.
Geschrei von unruhigen Patienten hallen durch die langen Gänge des sonst stillen Irrenhauses. Die staubigen Öllampen an der Decke flackern unkontrolliert. Pierre sitzt in einem gedimmten Raum, vor ihm ein alter Holztisch, auf dem sein ledernes Notizbuch bereit liegt. Er ist hier, um sich mit einer Patientin dieser Anstalt zu unterhalten.
Seine Hand ruht auf dem Notizbuch, während die Patientin Nummer 617 den düsteren Raum betritt. Ihr ausdruckslose Blick schweift im Zimmer umher. Mit einer schnellen Handbewegung deutet Pierre auf einen Stuhl gegenüber von ihm, «Du kannst dich setzen, wenn du magst». Die Patientin setzt sich zögernd, ihre glasigen Augen vollkommen auf dessen Pierres fokussiert.
«Ich bin sicher, man hat dir schon gesagt, warum ich hier bin.»
«..nein», erwiderte die Patientin, mit einer leisen Stimme.
«Oh, dann erlaub mir, mich vorzustellen. Mein Name ist Pierre Janet. Ich komme aus Frankreich und war schon immer fasziniert von dem menschlichen Denken. Demzufolge bin ich gelehrter Philosoph, sowie Psychiater und Psychotherapeut. Mit dem heutigen Gespräch möchte ich ein bisschen mehr über dich und deine Gedanken erfahren.»
«Warum würden Sie mit jemandem wie ...mir reden wollen?»
«Ich möchte mehr über deine Störung wissen, dazu auch etwas über dein früheres Leben erfahren. Um zukünftige Fälle besser zu verstehen, und diese vor einer Anstalt wie dieser zu bewahren, ist das wichtig.»
«Ehm.. wenn Sie meinen.» sagt sie unsicher, «Was wollen Sie denn wissen?»
«Wie bist du aufgewachsen? Wie war das Familienleben bei dir zuhause? Mich würde es freuen, wenn du einfach etwas von deiner Kindheit erzählst.» sagt er lächelnd.
«Ich bin auf einem kleinen Bauernhof auf dem Land aufgewachsen», begann sie stockend, «Ich musste viel mithelfen, vor allem als mein Vater das wenige Geld, das wir hatten, für Alkohol ausgegeben hatte. Das Ganze war ..uns dann irgendwann zu viel.», sie verstummt.
Pierre hakt nach, «Was meinst du damit? Und was meinst du mit ‘uns’?»
«Bevor Vater angefangen hat zu trinken, war alles gut. Mit dem Alkohol wurde er aber immer aggressiver und handgreiflicher. Zu dieser Zeit hat mich Cora beschützt.»
«Und wer ist diese Cora?»
«..sie, so wie viele andere, sind da drin.» sagt sie und deutet mit einem zitternden Finger auf ihren Kopf. «Wir sind nicht eine einzige Person, wir sind mehrere, nur eben da oben drin.» Wieder tippt sie hastig an ihre Stirn. «Als wären verschiedene Personen zusammen in einem Kopf eingesperrt.»
«Kannst du die Gefühle oder deine Erfahrungen genauer beschreiben?» Das ist nicht das erste Mal, das Pierre mit Patienten, die unter der sogenannten Dissoziativen Identitätsstörung leiden, redet.
«Wir mögen es nicht besonders, wenn wir als nur eine Person angesehen werden. Wir sind ein Gemisch von Personen, die abwechselnd die Kontrolle über Gedanken und Körper übernehmen. Das macht mir manchmal Angst, denn man kann jederzeit die Kontrolle verlieren, in einer fremden Situation auftauchen oder vergessen, was man zuvor getan oder gefühlt hat. Ich weiss nicht recht, wie ich das erklären soll..»
«Ich denke ich verstehe.» Pierre hakt erneut nach «Aber was meinst du ...ihr mit dem ‘Kontrolle verlieren’?»
«Ich, also diese Person, die Ihnen gegenübersitzt, habe eigene Gedanken. Ich bin hier gerade anwesend. Wenn aber nun zum Beispiel Cora die Kontrolle übernimmt, dann kann es gut sein, dass sie sich an dieses Gespräch gar nicht erst erinnert. Es kommt mir so vor, dass diese Personen in meinem Kopf manchmal einfach nicht miteinander reden können.»
«Und wisst ihr, warum andere Personen zum Vorschein kommen können?» Währenddessen kritzelt Pierre hastig in seinem Notizbuch.
«Cora ist wie eine Art Beschützerin sowie Aufsichtsperson für die Kleinen. Bei Gefahr übernimmt sie die Kontrolle und versucht, die Situation besser zu machen. Andersrum ist es mit den Kleinen.. wenn wir bestimmte Süssigkeiten essen oder Kinderlieder hören, dann wollen die das erleben und dann schubsen die mich in den Gedanken wie weg.» Die Patientin zittert leicht und reibt sich an den Schläfen.
«Ich verstehe.» weiteres Gekritzel ist zu hören. «Fühlt ihr euch nicht gut?» fragt Pierre, nachdem er die Patientin begutachtete.
«Wir haben nur oft Kopfschmerzen, nicht so schlimm.»
Als Pierre merkt, dass es der Patientin offensichtlich nicht gut geht, schliesst er sein Notizbuch und steht langsam auf. «Ich denke, dass ich, zumindest für den Moment, genug gehört habe. Ich danke euch, dass ihr die Zeit hattet, mir zu helfen. Wärt ihr damit einverstanden, wenn ich euch in der Zukunft einen weiteren Besuch abstatten würde?» sagt er, bevor er sich in Richtung Tür bewegt.
«Würde uns freuen.»
Mit Türklinke in der Hand gibt er ein letztes «Gute Besserung» von sich.
«Danke.» antwortete sie, mit dem selben, ausdruckslosen Blick wie zu beginn.